Die letzten ZeitzeugInnen
Die letzten ZeitzeugInnen der Shoah vermitteln weit mehr als nur einen Einblick in die Verbrechen des Nationalsozialismus. Denn ihre Lebensgeschichten und Gefühle stellen ein wichtiges Vermächtnis dar, dass es zu bewahren gilt. Claudia Aurednik hat zwei ZeitzeugInnen besucht und mit ihnen gesprochen.
Die letzten ZeitzeugInnen der Shoah vermitteln weit mehr als nur einen Einblick in die Verbrechen des Nationalsozialismus. Denn ihre Lebensgeschichten und Gefühle stellen ein wichtiges Vermächtnis dar, dass es zu bewahren gilt. Claudia Aurednik hat zwei ZeitzeugInnen besucht und mit ihnen gesprochen.
„Ich nehme meinen Lagergürtel aus dem Vernichtungslager Auschwitz in die Schulen mit. Wenn ich ihn dann den Kindern in der Klasse gebe, werden alle ganz still. Im Konzentrationslager habe ich ja nur noch 37 Kilo gewogen“, erzählt der Zeitzeuge Walter Fantl-Brumlik (89) und ergänzt: „Ich habe auch noch meinen Judenstern und Dinge aus Theresienstadt. Wenn die Kinder diese berühren, dann löst das bei ihnen Gefühle aus.“
Fantl-Brumlik ist einer der letzten ZeitzeugInnen, die regelmäßig in Schulen gehen und über ihr Schicksal erzählen. Der Auschwitz-Überlebende hat in seiner Jugend die Verbrechen des Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren. Seine Erzählungen verdeutlichen die Kaltblütigkeit und Perfidität der NationalsozialistInnen. „Meine Vorträge halte ich immer sehr prägnant und fesselnd. Ich erzähle auch, dass wir beim Transport von Theresienstadt nach Auschwitz 5000 Männer waren, von denen nur etwa 100 überlebt haben. Den SchülerInnen muss ich dann erklären, was die Selektion beim Eintreffen in Auschwitz bedeutet hat“, erklärt Walter Fantl-Brumlik, der dort seinen Vater Arthur Fantl-Brumlik zum letzten Mal gesehen hat: „Damals hat der Lagerarzt Josef Mengele die Selektion nach unserer Ankunft vorgenommen und zu meinem Vater ,links‘ und zu mir ‚rechts‘ gesagt. Seitdem habe ich meinen Vater nie wieder gesehen. Ich wurde dann mit anderen von der Rampe nach Auschwitz-Birkenau gebracht.“ Walter Fantl-Brumlik wird den Geruch der Krematorien und die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in Auschwitz niemals vergessen: „Als wir auf dem Weg nach Auschwitz-Birkenau waren, habe ich einen Kapo gefragt, was denn hier so riechen würde. Daraufhin hat er mich angesehen und gefragt, ob ich das wirklich wissen will. Ich habe ja gesagt. Dann hat er mit der Hand nach oben gezeigt und nur ‚dein Vater‘ gesagt.“ Zu seinen Vorträgen als Zeitzeuge nimmt Walter Fantl-Brumlik auch immer eine Fotografie seiner Familie mit. Auch seine Mutter Hilda Fantl-Brumlik und seine drei Jahre ältere Schwester Gertrude Fantl-Brumlik haben die Shoah nicht überlebt.
Die Familie hatte bis zum „Anschluss“ Österreichs im niederösterreichischen Bischoffstetten ein Geschäft. Walter Fantl-Brumlik erzählt, dass er bis zu dieser Zeit eine schöne Kindheit gehabt hatte. Auch den Antisemitismus hatte er als Kind bis zum Jahr 1938 nicht gespürt: „Nach dem Anschluss hat mich mein Schäferhund Jux vor körperlichen Angriffen beschützt. 1939 wurde meine Familie von den Nazis dazu gezwungen, unser Haus und unser Geschäft zu verkaufen. Anschließend wurden wir mit einem Lastauto von Bischoffstetten nach Wien in eine jüdische Sammelwohnung im Zweiten Bezirk gebracht.“ Eine Ausreise in die USA oder eine illegale Einwanderung ins damalige Palästina war für die Familie nicht möglich. Vor dem Zwangsumzug musste der Vater den geliebten Hund erschießen, weil dieser sehr anhänglich war und sie ihn nicht mitnehmen konnten: „Meine Schwester und ich haben richtig geheult, als mein Vater uns gesagt hatte, dass er den Juxi erschießen musste. Später im Konzentrationslager habe ich mich dann daran erinnert und mir gesagt: Und jetzt hier in Auschwitz, da machen sie mit uns solche Dinge.“
Walter Fantl-Brumlik erhält viele Briefe von SchülerInnen: „Manche Kinder sind wirklich sehr interessant. In einem hat eine Schülerin Folgendes geschrieben: ‚Als ich einen Judenstern in der Hand gehalten habe, da wusste ich, dass dieser einem Todgeweihten gehört hat.‘ Solche Kinder und engagierte LehrerInnen motivieren mich sehr.“ Manche Schulklassen gestalten auch Mappen über Fantl-Brumliks Vortrag und schicken ihm Bilder, die Fantl-Brumlik alle sorgsam in seiner Wohnung zur Erinnerung aufbewahrt. Drei- bis viermal pro Jahr besucht er auf Anfrage Schulen. Die einzige Bedingung für ihn ist jene, dass die LehrerInnen die SchülerInnen inhaltlich auf seinen Besuch vorbereiten. Den letzten Vortrag hat er in einem Bundesrealgymnasium in Linz gehalten. Die SchülerInnen dort hatten großes Interesse an seinem Schicksal: „Der Lehrer hat mir vor dem Vortrag gesagt, dass ich diesen vor etwa sieben SchülerInnen halten werde. Als ich dann in die Schule gekommen bin haben 47 SchülerInnen auf mich gewartet, die alle großes Interesse an meinen Erzählungen hatten.“
Walter Fantl-Brumlik hofft, dass die Jugend die Geschichte durch seine Vorträge weitertragen wird. Die aktuelle Politik klammert er bei seinen Vorträgen aus, denn er ist politisch nicht aktiv und findet, dass die LehrerInnen dafür zuständig wären.
Trotz seines Schicksals und der Ermordung seiner Familie verspürt er keinen Hass auf die ÖsterreicherInnen: „Ich habe nie Hassgefühle gehabt. Denn der Nationalsozialismus war eine Diktatur, in der die eigenen Kinder ihre Eltern verraten haben. Aber ich habe nicht eingesehen, wieso man die illegalen Nazis nach 1945 gedeckt hat.“ Auch die Behauptungen vieler älterer ÖsterreicherInnen, von den Vergasungen in Auschwitz während der Nazi-Zeit nichts gewusst zu haben, kann er nachvollziehen: „Ich sage als Zeitzeuge immer, dass ich selbst bis zu meiner Deportation nach Auschwitz nichts von den Vergasungen gewusst habe. Und ich glaube auch der damaligen österreichischen Bevölkerung, dass diese davon nichts gewusst hatte. Ich kann aber nicht verstehen, dass es heute noch Menschen gibt, die diese Verbrechen leugnen.“ Nach Auschwitz ist Walter Fantl-Brumlik nicht mehr gefahren, weil seine mittlerweile verstorbene Frau ihm das verboten hat. Und er hält fest, dass sie damit recht gehabt hat. Nach der Befreiung Österreichs hat er wie die meisten ZeitzeugInnen jahrzehntelang über sein Schicksal geschwiegen. Heute erklärt er die Gründe dafür: „Österreich war nach 1945 zweigeteilt. Es gab jene, für die der Einmarsch der Alliierten eine Besetzung war und jene, die diesen als Befreiung wahrgenommen haben. Für uns ZeitzeugInnen waren die Alliierten natürlich die Befreier. Aber durch die zweigeteilte Wahrnehmung der Bevölkerung waren wir nach dem Krieg viel zu blockiert, um über unser Schicksal zu sprechen.“
„1945 sind wir, Juden und andere Verfolgte, aus den Konzentrationslagern, dem Versteck oder aus den Wäldern zurückgekommen und waren endlich frei. Wir waren euphorisch, da wir keine Todesangst mehr hatten“, erzählt die Kulturjournalistin Angelica Bäumer (81) über die Befreiung Österreichs: „Aber das hat dann auch zu einem Verdrängungsprozess geführt. Erst Jahre später wurden die Erlebnisse während des Nationalsozialismus wieder lebendig. Und manche – wie der Schriftsteller Jean Amery oder Bruno Levi – begingen Selbstmord.“ Bäumer ist in einer Künstlerfamilie, als Tochter der jüdischen Fabrikantentochter Valerie Bäumer aus Wien und des deutschen Kunstmalers Eduard Bäumer, mit zwei Geschwistern in Salzburg aufgewachsen. Momentan verfasst sie Texte für Ausstellungskataloge und organisiert Vorträge und Ausstellungen sowie Diskussionsrunden.
Der „Anschluss“ Österreichs im März 1938 hat das Leben ihrer Familie schlagartig verändert. Denn die Nazis konfiszierten das Vermögen der Familie und verhafteten ihren Onkel. Als sogenannte „Halbjüdin“ litt Angelica Bäumer unter der Diskriminierung und Verfolgung der nationalsozialistischen Gesellschaft. 1944 wurde die Familie von einem befreundeten Arzt vor einer Großrazzia und der Deportation der letzten Jüdinnen und Juden gewarnt. Die Bäumers flohen mit einem Flüchtlingszug nach Großarl und wurden vom Pfarrer Balthasar Linsinger bis zur Befreiung Österreichs in seinem Pfarrhaus untergebracht, allerdings hatte Linsinger die Familie als Kriegsflüchtlinge aus Wien ausgegeben. Auf Antrag von Angelica Bäumer wurde Linsinger 2010 von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in die „Liste der Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen.
Angelica Bäumer hat als Zeitzeugin während der 2000er-Jahre Schulen besucht und engagiert sich für eine kritische Aufarbeitung der im Zuge der Shoah begangenen Verbrechen. Vor allem die Frage, was nach dem Tod der letzten ZeitzeugInnen passieren wird, beschäftigt sie sehr. Im November 2012 hat sie anlässlich ihres 80. Geburtstages das Symposium „Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen. Vom Mythos der Zeitzeugen“ veranstaltet. „Ich war von dem Symposium sehr enttäuscht, denn dort haben sich meine Befürchtungen
bestätigt, dass die HistorikerInnen und PolitologInnen über unser Ableben gar nicht traurig sind“, sagt sie und ergänzt: „Das liegt daran, dass diese dann in Archive gehen können und sich nicht mehr auf die Menschen beziehen müssen.“ Die meisten Archive sind aber nicht auf dem neuesten Stand und wurden während der Nazi-Zeit angelegt. Angelica Bäumer erzählt, dass sie selbst einige Archive besucht hat. Dabei hat sie festgestellt, dass viele wichtige Dokumente oft nur rudimentär vorhanden sind: „In Salzburg gibt es ein Stadt- und ein Landesarchiv. In dem einen wurde euphemistisch festgehalten, dass wir nach Großarl ‚umgezogen‘ wären. In dem anderen Archiv haben sich Dokumente gefunden, die belegen, dass wir zur selben Zeit den Judenstern tragen mussten. Diese Widersprüche beunruhigen mich sehr.“
Bäumer warnt auch vor dem Statistikfetischismus der WissenschaftlerInnen: „Es gibt einige HistorikerInnen wie Albert Lichtblau, die bemüht sind von rein statistischen Untersuchungen wegzukommen. Leider blieben viele HistorikerInnen bei ihren Forschungen und Diskussionen zur Shoah in den Zahlen stecken. Das betrachte ich als großen Fehler, denn dadurch werden die Verbrechen abstrakt dargestellt, und mir ist es wichtig, konkret über die Inhalte zu sprechen.“ Außerdem warnt sie davor, die Geschichte der Shoah mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs enden zu lassen. Sie erzählt davon, dass sie als 14-Jährige eine glühende Zionistin war und bei der Alija in Salzburg mit Kindern und Jugendlichen, die aus den Lagern kamen, gearbeitet hat: „Die jüdischen Kinder aus den Konzentrationslagern waren damals in einer Salzburger Garage untergebracht. Viele von ihnen konnten weder lesen noch schreiben und hatten aufgrund der mangelnden Ernährung keine Zähne.“ Und das erinnert sie an eine Geschichte, die sie bis heute nicht loslässt:
„Am meisten hat mich damals ein Bub berührt, der so alt war wie ich und kaum sprechen konnte. Er war damals völlig davon fasziniert, dass man eine Toilettentüre aufmachen und wieder schließen kann. Immer wieder ist er in das Klo hineingegangen und wieder herausgekommen, nur um zu sehen, dass man an diesem Ort auch alleine sein kann“. Bäumer hält fest, dass genau diese kleinen Dinge so wichtig sind und in der Forschung oft vergessen werden. Bereits in den 1980er-Jahren hat sich Angelica Bäumer dafür ausgesprochen, dass sich die ZeitzeugInnen nicht nur mit ihrem Schicksal während des Nationalsozialismus auseinandersetzen sollten: „Ich habe damals mit Hermann Langbein, dem Chronisten von Auschwitz, heftig über diese Frage debattiert. Denn ich war der Meinung, dass wir etwas tun müssen, damit so etwas nie wieder passiert. Bis heute beunruhigen mich
die rechtsradikale Jugend und die rechten Parteien. Zumal viel zu wenig über diese reflektiert wird.“ Den verpflichtenden Besuch der Gedenkstätten Auschwitz und Mauthausen hält Angelica Bäumer nicht für zielführend, weil Verpflichtungen oftmals abgelehnt werden. „Viel wichtiger ist es, dass man den LehrerInnen klar macht, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus zu unserer jüngeren Vergangenheit gehören und dass sie während ihres Unterrichts die Neugierde der Kinder wecken.“ Und Bäumer ergänzt: „Denn die Kinder haben noch Großeltern und Urgroßeltern, die die damalige Zeit erlebt haben. Diese zum Reden zu bringen, betrachte ich als überaus wichtig.“
Der progress Artikel (Juni 2013) von Claudia Aurednik wurde im Jänner 2014 auch in dem türkischen jüdischen Magazin Salom Dergi veröffentlicht.
Links:
Symposium „Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen“
Die Autorin ist Zeithistorikerin und freiberufliche Journalistin. Derzeit studiert sie Publizistik- und Kommunikationswissenschaften
an der Universität Wien.