Kurdistan, 50 Grad


Wie der türkische Staat Flüsse staut, Ökosysteme vernichtet und Naturzerstörung zur Waffe der Unterdrückung wird.

Ich bin mit Erzählungen aufgewachsen, in denen die Dörfer meiner Eltern bunt und lebendig waren. Es gab Felder voller Blumen, klare Flüsse, Tiere auf den Weiden und Sommer, in denen die Menschen in die Berge zogen. Diese Zeit nannte man Zozan – eine jahrhundertealte Tradition des Nomadentums und ein fester Bestandteil kurdischer Kultur. Wenn die Hitze in den Dörfern unerträglich wurde, zog man gemeinsam hinauf in die kühlen Höhen, zu den Sommerweiden, wo Wasser floss und das Gras noch grün war. Familien bauten Zelte auf, hüteten Tiere, machten Käse, erzählten Geschichten. Es war mehr als eine ökonomische Notwendigkeit, es war eine Lebensform, ein Rhythmus, der sich nach der Erde richtete und sie respektierte. Diese Geschichten handelten von Gemeinschaft, von Nähe zur Erde, von einem Leben, das mit der Natur verbunden war.

Jedes Mal, wenn ich nach Kurdistan fliege, trage ich dieses Bild in mir, aber es existiert nicht mehr. Oder besser gesagt: Es wurde ausgelöscht. Systematisch, geplant und gewollt. Die Dörfer sind verödet, der Boden ist hart, die Flüsse werden durch Staudämme kontrolliert. Über den Bergen, wo einst kurdische und armenische Lieder erklangen, prangt in weißen Lettern „Ne mutlu Türküm diyene“ – „Wie glücklich ist, wer sagt: Ich bin Türke.“ Diese Worte sind mehr als Propaganda, sie sind ein Zeichen der Besatzung. Die Landschaft selbst wird hier in ein Werkzeug der Macht verwandelt, die Natur in ein Mittel politischer Kontrolle. Was einmal lebte, wird gezielt zum Schweigen gebracht: Erde, Wasser und Menschen.

Auch diesen Sommer war ich wieder in Kurdistan, an der Seite meiner Tante und meiner Großmutter, die mich in Bingöl (kurd. Çewlig) begleiteten. Im Dorf meines Vaters habe ich eine Freundin, Şewal. Nicht jede Familie hat dort ein Auto, viele können sich keines leisten. Die Inflation, die durch Erdoğans Politik immer weiter in die Höhe schießt, trifft marginalisierte Gruppen besonders hart. Şewal erzählt mir, dass viele Familien im Dorf ihre Kühe verkaufen mussten, auch ihre eigene Familie. Die Preise für Futter sind explodiert, die Trockenheit nimmt zu, und staatliche Unterstützung gibt es kaum. Was als Wirtschaftskrise gilt, ist hier Teil einer gezielten Politik der Vernachlässigung: Die ländlichen, mehrheitlich kurdischen Regionen werden sich selbst überlassen. Laut einem Bericht der OECD aus dem Jahr 2021 ist die Türkei einer Vielzahl von Naturgefahren ausgesetzt – von Überschwemmungen über Frost bis zu Erdbeben und Lawinen. Besonders die Dürren sind jedoch auch ein großes Problem, vor allem in landwirtschaftlich geprägten Regionen. Doch anstatt in nachhaltige Agrarpolitik oder Maßnahmen zur Anpassung an die Klimakrise zu investieren, steckt die islamistisch-nationalistische AKP-MHP-Regierung Geld in Militär, Beton und mafiöse Netzwerke.

Während Felder austrocknen, fließen Millionen in Prestigeprojekte und Korruption. 2023 enthüllte ein ehemaliger AKP-Insider, dass 3,5 Milliarden US-Dollar an EU-Agrarfördergeldern verschwunden sind und auch gegen das Agrarministerium selbst gibt es immer wieder Korruptionsvorwürfe. Seit Jahren betreibt die Regierung eine Politik der Selbstbereicherung: enge Geschäftsbeziehungen zwischen Staat, Bauindustrie und Rüstungsfirmen sichern Loyalität, während soziale und ökologische Fragen ignoriert werden. Die AKP-MHP-Koalition nutzt Religion, Nationalismus und Gewalt, um ihre Macht zu stabilisieren und opfert dabei die Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Klimapolitik wird zur Nebensache, ländliche Regionen verarmen, und wer Kritik übt, gilt schnell als „Vaterlandsverräter“.

Wo früher Kinder spielten, stehen heute Militärposten. Das Dorf meiner Mutter existiert nicht mehr. Es lag ebenfalls in der Provinz Bingöl, jedoch im Stadteil Kiğı, einer Region, die einst mehrheitlich von Armenier_innen und kurdischen Alevit_innen bewohnt war. Das türkische Militär erklärte das Gebiet zur Sperrzone, besetzte die Berge, errichtete Stützpunkte und Zäune. Ihre Familie musste in den Westen fliehen, nach Istanbul, wo sie als billige Arbeitskräfte ihren Unterhalt verdienten und mit Ausgrenzung und Rassimus konfrontiert waren. Wer zurückkehren wollte, wurde bedroht.

In den 1980er- und 1990er-Jahren wurden kurdische Dörfer vom türkischen Staat als Feindgebiet behandelt. Doch alevitische Dörfer waren ihm ein noch größerer Dorn im Auge. Sie verkörperten eine andere Vorstellung von Leben und widersprachen damit der islamistisch-nationalistischen Ideologie des türkischen Staates. Der Staat führte systematische Vertreibungen, Militäroperationen und Pogrome durch. Alevitische Dörfer wurden niedergebrannt, ihre Bewohner_innen ermordet oder gezwungen zu fliehen. Ganze Regionen wurden entvölkert, ihre Spuren ausgelöscht. Diese Gewalt verfolgte das Ziel, kulturelle und religiöse Vielfalt zu vernichten und eine homogene sunnitisch-türkische Nation zu erzwingen, wie auch im seit 2018 vom türkischen Staat besetzten Afrîn.

Mit dem Bau der Kiğı-Talsperre am Peri Çayı, einem Nebenfluss des Euphrat, war auch das Dorf meiner Mutter betroffen. Der Damm, offiziell als Projekt der „Modernisierung“ und „Entwicklung“ deklariert, ist Teil eines staatlichen Programms zur Energiegewinnung sowie zur Kontrolle über Wasser, Land und Menschen. Zwischen 1998 und 2016 errichtet, überflutete der Staudamm Täler, Felder und Dörfer, die seit Jahrhunderten von kurdischen und alevitischen Gemeinschaften bewohnt waren. Was einst Leben war, wurde unter Beton und Wasser begraben. Die heiligen Orte, an denen Alevit_innen seit Generationen beteten – Quellen, Bäume, Felsen – sind verschwunden. Von dem Dorf meiner Mutter blieb nichts als die Gräber ihrer Großeltern. Das Gebiet rundherum ist heute militärisches Sperrgebiet, bewacht von türkischen Soldaten. Selbst der Tod darf hier nicht frei ruhen. Das Dorf hieß Abar.

Die Naturkatastrophe wird zum politischen Konflikt. Als im Februar 2023 die Erde in der Türkei bebte, starben über 50.000 Menschen. Ganze Städte lagen in Trümmern und wieder traf es die Ärmsten und Minderheiten. Besonders alevitische, kurdische und arabische Gebiete wurden vom Staat im Stich gelassen. Hilfe kam spät oder gar nicht. Statt Rettungstruppen schickte die Regierung Polizisten, statt Unterkünften baute sie ihre Gefängnisse aus. Jene Orte, in denen Tausende politische Gefangene, Journalist_innen, Studierende und Oppositionelle sitzen. Die sogenannte Katastrophenhilfe wurde zur Bühne politischer Propaganda. Erdoğan versprach „Tokio-Häuser“, moderne, erdbebensichere Wohnungen für die Opfer – doch viele davon existieren nur auf dem Papier. Milliarden verschwanden in den Taschen regimetreuer Bauunternehmen, während Zehntausende noch immer in Zelten oder Containern leben. Das Erdbeben hat nicht nur Häuser zerstört, sondern das Ausmaß staatlicher Korruption und Gewalt sichtbar gemacht.

Während Menschen unter den Trümmern um ihr Leben kämpften, bombardierte die türkische Armee auch Rojava. Ein Gebiet, das selbst schwer vom Erdbeben betroffen war. Diese Gewalt endet nicht mit Raketen. Sie setzt sich in anderer Form fort: in der Kontrolle über Wasser. Durch ihre Staudämme am Euphrat hält die Türkei das Wasser zurück, das nach Syrien fließen sollte und entzieht damit Millionen Menschen in Rojava die Lebensgrundlage. Die Niederschlagsmenge ist dort um rund 70 Prozent gesunken, ganze Flussläufe sind ausgetrocknet.

Inmitten von Krieg, Belagerung und Dürre versuchen Menschen in Rojava, eine Gesellschaft aufzubauen, in der Ökologie, Feminismus und Selbstverwaltung keine bloßen Parolen, sondern gelebte Realität sind. Der demokratische Konföderalismus basiert auf der Idee, dass Freiheit nicht gegen die Natur, sondern nur mit ihr möglich ist – in gemeinschaftlichen Strukturen, in denen Frauen, Umwelt und soziale Gerechtigkeit im Zentrum stehen. Kurd_innen, Araber_innen, Assyrer_innen, Armenier_innen und Turkmen_innen gestalten die Gesellschaft gemeinsam – in Räten, Kommunen und Versammlungen, in denen jede Stimme zählt. Entscheidungen entstehen von unten, nicht von oben.

Während der türkische Staat Wälder niederbrennt, Dörfer flutet und Flüsse staut, pflanzen Menschen in Rojava Bäume, bauen Kooperativen auf, teilen Wissen und Verantwortung. Sie schaffen eine solidarische Ökonomie jenseits von Profit und Konkurrenz und zeigen, dass Klimagerechtigkeit nicht durch Konferenzen, sondern durch gemeinschaftliches Leben beginnt. Rojava ist keine ferne Utopie, sondern eine gelebte Alternative und eine radikale Antwort auf Kapitalismus, Patriarchat und Kolonialismus, auf dieselben Systeme, die auch die Klimakrise hervorbringen. Genau deshalb betrifft es uns alle, wenn der türkische Staat Rojava angreift – weil dieser Angriff nicht nur die Menschen dort trifft, sondern die Möglichkeit einer anderen, gerechten Welt.

Reyhan Basköy studiert Geschichte und Sprachwissenschaften an der Universität Wien.


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