Wege ohne Heimkehr. Das armenische Leben vor und nach dem Genozid in der Türkei
Am 24. April 2015 jährt sich der Völkermord an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich zum hundertsten Mal. Progress sprach mit der Historikerin Corry Guttstadt über die Situation der ArmenierInnen in der heutigen Türkei.
Am 24. April 2015 jährt sich der Völkermord an den ArmenierInnen im Osmanischen Reich zum hundertsten Mal. progress sprach mit der Historikerin Corry Guttstadt über die Situation der ArmenierInnen in der heutigen Türkei.
Das armenische Leben in der Türkei ist nach wie vor durch Diskriminierung, Hass und die fortdauernde Leugnung des Genozids von 1915 gekennzeichnet. Bis heute verhindert der türkische Staat die geschichtliche Aufarbeitung des Genozids und versucht auch international die Anerkennung des Völkermords zu verhindern.
progress: Der Völkermord löschte die armenische Bevölkerung im Gebiet der heutigen Türkei weitgehend aus. Gibt es noch eine lebendige armenische Gemeinschaft in der Türkei?
Corry Guttstadt: Heute leben schätzungsweise 60.000 Armenier in der Türkei, Tendenz fallend. Sie leben fast ausschließlich in Istanbul, wo es mehrere armenische Schulen, die beiden armenischen Tageszeitungen Jamanak und Marmara sowie die Wochenzeitung AGOS und etwa dreißig armenische Kirchen gibt, wenn man dies als Gradmesser einer „lebendigen Gemeinschaft“ ansehen möchte.
In Anatolien leben so gut wie keine Armenier mehr. Dies ist nicht allein eine Folge des Genozids sondern auch eine Folge der erneuten Vertreibung und Ermordung des in der Türkei als „Befreiungskrieg“ bezeichneten Krieges von 1919-1920. Dieser richtete sich gegen die Rückkehr überlebender Armenier im Schutz französischer Besatzungstruppen nach Kilikien und die vorgesehene Gründung eines armenischen Staates im Nordosten Anatoliens. Es kam erneut zu Massakern an armenischen Zivilisten, die als Fortsetzung des Völkermords angesehen werden können. Nach der Gründung der Republik Türkei sollte nach der Auslöschung der armenischen Bevölkerung auch ihre Geschichte ausradiert werden. So wurden außerhalb von Istanbul zahlreiche Kulturbauten zerstört, die Namen von Dörfern und Städten türkisiert, und überall Straßen, Stadtteile und Schulen nach den Mördern benannt.
Die aggressive nationalistische Politik führte während der folgenden Jahrzehnte zur Schließung von Schulen und Gemeindeeinrichtungen und in Folge dessen zu einem weiteren Fortzug der verbliebenen Armenier aus Ostanatolien.
Wie der Titel meines Buches „Wege ohne Heimkehr“ zum Ausdruck bringt, gab es nach dem Völkermord auch für die überlebenden Armenier keine „Heimkehr“: Muslime hatten ihre Häuser und ihren Besitz beschlagnahmt. Mehrere der Erzählungen in dem Band beschreiben dies: Hagop Mintzuri bezeichnet seine Situation in Istanbul als das Leben „einer Geisel“, die Großmutter „Garine“ in der Erzählung Karin Karakașlıs hat nur durch Konversion zum Islam überlebt und ihre armenische Identität bis zum Tode verborgen.
Wie sieht die rechtliche Stellung der nicht-muslimischen Minderheiten und die der armenischen Gemeinschaft in der Türkei im Speziellen aus?
Formalrechtlich gesehen sind die Armenier Staatsbürger des Landes und genießen die gleichen Rechte wie muslimische Türken. Außerdem sind ihre Rechte als Minderheit – also auf Unterhalt eigener Schulen und Gemeindeeinrichtungen, Gebrauch der eigenen Sprache etc. – wie die der Griechen und Juden im Lausanner Vertrag von 1923 festgeschrieben. In der Realität hat die Politik der Türkei von Beginn an zwischen „echten“ (muslimischen) Türken und den nichtmuslimischen Bürgern unterschieden.
Armenier und andere Nichtmuslime waren zahlreichen Beschränkungen unterworfen: Sie wurden elementarer Rechte wie der Freizügigkeit, Meinungs- und Organisationsfreiheit beraubt und waren im Alltag zahlreichen Diskriminierungen und Beschränkungen ausgesetzt; bis heute ist ihnen z.B. im Staatsdienst oder in der Armee ein Aufstieg verwehrt.
Anstatt das Leben seiner (nichtmuslimischen) Bürger zu schützen, sind es immer wieder Politiker und staatliche Stellen, die den Hass gegen Armenier schüren und die Aufklärung von Gewalttaten (wie z.B. dem Mord an Hrant Dink, Journalist und Herausgeber der in Istanbul erscheinenden zweisprachigen Wochenzeitung Agos) verschleppen.
Welche Auswirkung hat eine Politik des türkischen Staates, die den Genozid leugnet, auf die ArmenierInnen?
Die Leugnung beschränkt sich nicht auf ein Abstreiten oder eine Relativierung von Fakten, sondern Armenier werden weiterhin als „Feinde und Verräter“ bezichtigt, wobei nun auch die Forderung der Anerkennung des Völkermords - vor allem seitens außerhalb der Türkei lebender Armenier - als weiterer Beweis ihres „Verrats“ gewertet wird.
Begleitet wird dies durch die Kontinuität antiarmenischer Propaganda und Taten seitens großer Teile der türkischen Gesellschaft und politisch Verantwortlicher. Schulbücher enthalten antiarmenische Aussagen, die den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen, eine Petition mehrerer hundert Intellektueller diese Bücher zu korrigieren blieb unbeantwortet. Die staatliche Gazi-Universität in Ankara rief zu einem Plakatwettbewerb auf, welche die armenischen Gräueltaten darstellen sollten.
Hat sich die Lage der ArmenierInnen unter der AKP-Regierung verbessert oder eher verschlechtert? Gibt es inzwischen Bestrebungen, die ethnische und religiöse Pluralität der türkischen Gesellschaft anzuerkennen und zu fördern?
In ihren ersten Regierungsjahren hat die AKP – zum Teil wohl in der Hoffnung auf eine Aufnahme in die EU – eine Reihe von Reformen durchgeführt, die unter liberalen Intellektuellen sowie unter Angehörigen der Minderheiten Hoffnungen auslösten.
Ein Gesetz von 2011 sieht die Rückgabe des widerrechtlich beschlagnahmten oder eingefrorenen Eigentums der christlichen und jüdischen Stiftungen an diese vor. In der Praxis verläuft die Rückgabe äußerst schleppend und wird von staatlichen Stellen immer wieder behindert. In ihrer Rhetorik propagiert die AKP das „Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften“, das zu osmanischen Zeiten angeblich so friedvoll war.
Die Ideologie der AKP ist nicht nur islamistisch, sondern immer auch nationalistisch: Es war der AKP-Bildungsminister, der die antiarmenische Propaganda in den Schulunterricht brachte. Während des Wahlkampfes für die Präsidentschaftswahlen im letzten Sommer sagte Erdoğan, man habe ihn „sogar“ - und dann entschuldigte er sich für das schlimme Wort - „als Armenier bezeichnet“.
Die Lockerungen, die wir in der Türkei erleben – z.B. dass die Bezeichnung des Völkermords als Völkermord nicht mehr zur Strafverfolgung führt - sind der Erfolg der Zivilgesellschaft, des unerschrockenen und unermüdlichen Engagements von mutigen Publizisten und Menschenrechtsaktivisten.
Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler. Gerade arbeitet er an einem Sammelband über den Kampf um Kobanê, der voraussichtlich im Sommer 2015 bei edition assemblage erscheint.