Schlepperei in Zeiten unbegrenzter Grenzen
Wenn es um Schlepperei geht, wird emotionalisiert. Wer trotzdem differenziert, muss die restriktive Asylpolitik der EU als eine ihrer größten Förderinnen erkennen.
Wenn es um Schlepperei geht, wird emotionalisiert. Wer trotzdem differenziert, muss die restriktive Asylpolitik der EU als eine ihrer größten Förderinnen erkennen.
„In DDR-Zeiten hießen ‚Schlepper’ übrigens ‚Fluchthelfer’ und alle (außer der SED) fanden sie ganz toll. Nur ein Gedanke.“ Mitten in der Augusthitze, als die „Schlepper-Mafia“ nach der Verhaftung von drei Aktivisten der Refugee-Bewegung gerade in aller Munde war, sorgte Armin Wolf mit diesem Tweet für ein wenig zusätzliche Erregung. Die FPÖ tat in einer OTS-Meldung ihre Empörung darüber kund, dass Wolf „doch tatsächlich schwerst kriminelle Schlepper mit idealistischen Fluchthelfern aus DDR-Zeiten vergleicht“. Helmut Brandstätter mokierte sich im Kurier: „Wenn jetzt Fluchthelfer aus der kommunistischen Diktatur DDR mit heutigen Schlepperbanden verglichen werden, hört sich der Spaß auf.“ Als Begründung erteilte er den LeserInnen Geschichtsunterricht: „Alleine an der Berliner Mauer wurden zwischen 1962 und 1989 mindestens 251 Menschen getötet, die von Deutschland Ost nach Deutschland West übersiedeln wollten.“ Unerwähnt blieb hingegen, dass in den vergangenen 25 Jahren alleine im Mittelmeer schätzungsweise 20.000 Bootsflüchtlinge ertrunken sind, die versucht haben von Afrika nach Europa zu gelangen. Um Spaß ist es beim Thema Flucht zu DDR-Zeiten genauso wenig gegangen wie heute.
Das Delikt der Schlepperei liegt laut Fremdenpolizeigesetz dann vor, wenn Menschen materiellen Gewinn daraus erzielen, den illegalen Grenzübertrittanderer zu fördern – auf freiwilliger Basis, ohne Gewaltandrohung, Vorspiegelung falscher Tatsachen und Machtmissbrauch. Dadurch ist es klar vom Delikt des Menschenhandels abgegrenzt. SchlepperInnen bringen Geschleppte für Geld über Grenzen. MenschenhändlerInnen beuten ihre Opfer aus. Dazu, dass dieser Unterschied in der rechtlichen Definition kaum jemandem bewusst ist, haben Medien – in Österreich wenig überraschend allen voran die Krone –, aber auch so manche PolitikerIn viel beigetragen: Schlepperei wird mit Brutalität und Skrupellosigkeit verknüpft und tritt reflexartigeAssoziationen mit schweren Gewalttaten und Menschenhandel los. Jeder Versuch einer differenzierten Auseinandersetzung mit Schlepperei und den strukturellen Widersprüchen der europäischen Flüchtlingspolitik, auf die sie verweist, erscheint in diesem Licht von vornherein als anrüchig.
Legale Fluchthilfe. Es macht aber durchaus Sinn, das Delikt der Schlepperei in einem größeren – auch historischen – Kontext zu reflektieren und dazu einen Blick in die deutsche Geschichte zu wagen. 1977 war auf organisierte Fluchthilfe angewiesen, wer aus der DDR floh, und der deutsche Bundesgerichtshof urteilte diesbezüglich: „Der Fluchthilfevertrag kann auch unter Berücksichtigung seines Gesamtcharakters nicht als verwerflichbetrachtet werden.“ Wer Flüchtende dabei unterstützt, „das ihnen zustehende Recht auf Freizügigkeit zu verwirklichen, kann sich auf billigenswerteMotive berufen und handelt sittlich nicht anstößig“. Für ihre Dienste durften FluchthelferInnen eine Vergütung verlangen, die sie auch vor Gericht einklagen konnten. Der stellvertretende Außenminister der DDR, Kurt Nier, kritisierte, dass damit „die Existenz und Tätigkeit krimineller Menschenhändler in der BRD legalisiert“ werde.
Heute ist fast immer auf „kommerzielle Fluchthilfe“ angewiesen, wer in Europa Schutz sucht. Aber ihre Bewertung in Europa hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs grundlegend gewandelt. Wo vormals von „Flucht“ die Rede war, geht es jetzt um „illegale Einreise“; aus nicht strafbaren Hilfs- undDienstleistungen wurde innerhalb weniger Jahre ein hochkriminalisiertes Verbrechen. Als Schlepperei wurde Fluchthilfe in den 1990ern zum strafbaren Delikt, das in weiterer Folge immer weiter ausgedehnt wurde – in Österreich zuletzt mit dem Fremdenpolizeigesetz 2005. Dr. Kurt Schmoller, damals Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, attestierte eine „Überkriminalisierung“: Die Strafmaße seien unverhältnismäßig hoch und von der Möglichkeit der Definition von Ausnahmen – zum Beispiel für humanitäre Hilfe und die Zusammenführung von Angehörigen – wurde nicht Gebrauch gemacht.
Keine Fluchtwege. Die größten KritikerInnen der Missachtung des Rechts auf Freizügigkeit durch kommunistische Staaten arbeiten nunmehr selbst massiv an der Beschneidung der Mobilität eines beträchtlichen Teils der Weltbevölkerung. Die Möglichkeiten, auf reguläre Weise in ein europäisches Land einzureisen, um dort Asyl zu beantragen, wurden in den letzten 20 Jahren beinahe zur Gänze abgeschafft. Die viel verwendete Metapher der „Festung Europa“ beschreibt diese Situation nur dürftig. Aufgrund von Visapflicht, Drittstaaten-Regelungen und der Verlagerung der europäischen Grenzpolitik auf Transitstaaten scheitern viele Flüchtlinge nicht erst an den Grenzen der sich abschottenden europäischen Staaten. „Durch die Vorverlagerung der Grenzkontrollen werden sie bereits daran gehindert, ihren Weg in Richtung Europa überhaupt aufzunehmen“, konstatiert Tillmann Löhr in seinem Buch „Schutz statt Abwehr“ und schreibt deshalb von „Europas unbegrenzten Grenzen“.
Der Weg zum Asylverfahren führt heute folglich meist unweigerlich in die Illegalität und zur Inanspruchnahme „kommerzieller Fluchthilfe“. In diesem Sinne kamen John Morisson und Beth Crosland bereits 2001 in einem Paper für die UNHCR zu dem Schluss, dass ein großer Teil der Maßnahmen europäischer Staaten im Kampf gegen Schlepperei im Grunde Teil des Problems sei. Das restriktive europäische Grenzregime produziere nicht nur die Bedingungen, in denen die Nachfrage nach den Diensten von SchlepperInnen boomt. Die EU riskiere auch, das Menschenrecht auf Asyl in Europa faktisch abzuschaffen, solange keine ausreichenden legalen und sicheren Fluchtwege – beispielsweise durch Schutzvisa – geschaffen werden. Diese Zusammenhänge werden in der Regel jedoch weitgehend ignoriert. Leichter ist es, den Schwarzen Peter kriminellen Schlepperbanden zuzuschieben.
Auch nach dem Tod von über 300 Flüchtlingen vor Lampedusa am 3. Oktober ließen die Kampfansagen gegen Schlepperei nicht lange auf sich warten. EU-Kommissarin Cecilia Malmström kündigte prompt an, „die Anstrengungen im Kampf gegen Schleuser, die menschliche Hoffnungslosigkeit ausbeuten, zu verdoppeln“. Kausalitäten werden dabei einfach auf den Kopf gestellt, kritisiert der Oxforder Migrationsexperte Hein de Haas. Das neue Grenzkontrollsystem Eurosur wird nun als Maßnahme gegen das Sterben im Mittelmeer präsentiert. Dass die Bemühungen der Europäischen Grünen im entsprechenden Gesetz tatsächlich nennenswerte und konkrete Verbesserungen der Seenotrettung zu verankern, in den EU-Gremien wiederholt abgelehnt wurden, wird nicht dazu gesagt. Nur eine Woche später ertranken erneut Dutzende Flüchtlinge vor der italienischen Küste.
Zur Lage an der EU-Außengrenze kommt hinzu, dass mit der seit 2003 gültigen Dublin-II-Verordnung eine Situation geschaffen wurde, die Schlepperei auch innerhalb der EU fördert. Seither können Flüchtlinge nur in jenem Land Asyl beantragen, in das sie zuerst eingereist sind. Um den menschenunwürdigen Verhältnissen, denen AsylwerberInnen in Ländern wie Griechenland, Italien und Ungarn ausgesetzt sind, zu entgehen, müssen sie auch innerhalb Europas die Gefahren und Kosten irregulärer Grenzübertritte auf sich nehmen.
Kriminalisierung. Während es in diesem Rahmen höchst fraglich ist, dass der Schlepperparagraph Flüchtlingen zu Gute kommt, scheint er durchaus dazu geeignet, jene zu kriminalisieren, die tatsächlich helfen: Stephan Schmidt und Elias Bierdel waren 2004 nach der Rettung von 37 in Seenot geratenen Flüchtlingen mit dem Hilfsschiff Cap Anamur in Italien wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung in einem besonders schweren Fall angeklagt und wurden erst fünf Jahre später freigesprochen. Ähnliches widerfuhr 2007 Abdelbasset Zenzeri und Abdelkarim Bayoudh, den Kapitänen zweier tunesischer Fischerboote, die 44 afrikanische Flüchtlinge gerettet hatten. Zunächst der Schlepperei verdächtigt, wurden sie 2009 wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Im gleichen Jahr wurde dieses Urteil zwar aufgehoben, die beiden Kapitäne wurden jedoch wegen Widerstand gegen ein Kriegsschiff zu 2,5 Jahren Haft verurteilt. Erst 2011 wurden sie vom Berufungsgericht tatsächlich freigesprochen. In Österreich wurde 2004 gegen den Anwalt Georg Bürstmayr wegen Schlepperei ermittelt, nachdem er tschetschenische Flüchtlinge in Tschechien über ihr Recht aufgeklärt hatte, in Österreich Asyl zu beantragen.
Der Anwalt Lennart Binder schilderte kürzlich den weniger prominenten Fall einer kurdischen Aktivistn, die selbst nach Österreich geflohen war. Nachdem sie anderen kurdischen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt hatte, ließen diese ihr 15 Euro da, weil sie ihren Kühlschrank leergegessen hatten. Jetzt sei sie wegen „gewerbsmäßiger Schlepperei“ angeklagt. Auch wenn die Ermittlungen gegen Bürstmayr rasch eingestellt wurden, hilfeleistende Seeleute letztlich freigesprochen wurden und Abdelbasset Zenzeri trotz allem sagte: „Ich würde es wieder tun“. Solche Geschichten transportieren, dass von Hilfeleistungen für Flüchtlinge in Notsituationen besser absieht, wer sich gehörige Scherereien mit der Justiz nicht leisten kann. Der europäische Kampf gegen illegale Migration und Schlepperwesen fördert Entsolidarisierung, kriminalisiert Zivilcourage und leistet damit einen weiteren Beitrag zur Produktion konkreter humanitärer Katastrophen. Dass sich das Desaster vom 3. Oktober zutragen musste, damit nun erwogen wird, der Kriminalisierung von Hilfeleistung und Seenotrettung ein Ende zu setzen, ist ein Armutszeugnis für Europa.
Schlepperei soll nicht verharmlost werden. Sie kann professionelle und verantwortungsvolle Dienstleistung sein und Leben retten. Ohne Zweifel gibt es zugleich eindeutig strafwürdige Fälle, bei denen die Grenze zum Menschenhandel verschwimmt und Flüchtlinge leichtfertig in den Tod geschickt werden. Eine verantwortungsvolle Politik müsste sich diesem differenzierten Spannungsfeld stellen und Konsequenzen daraus ziehen, statt eine pauschale und immer intensivere Kriminalisierung von Schlepperei weiter voranzutreiben. Dass SchlepperInnen oft primär aus finanziellen Interessen und nicht aus humanitären Motiven handeln, kann durchaus angenommen werden. Sicher ist aber, dass auch die Abschottung der europäischen Außengrenzen nicht in der Sorge um die Menschenrechte wurzelt.
Die Autorin hat Kultur- und Sozialanthropologie in Wien und Paris studiert.
Siehe auch: Ein Schleier, der sich über die Existenz legt