Grenz(t)räume

  • 20.09.2012, 15:36

Täglich machen sich tausende Menschen aus Zentralamerika in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg in Richtung USA. Doch die meisten von ihnen kommen niemals dort an. Laut Amnesty International ist die Migrationsreise durch das Transitland Mexiko eine der gefährlichsten der Welt.

Täglich machen sich tausende Menschen aus Zentralamerika in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg in Richtung USA. Doch die meisten von ihnen kommen niemals dort an. Laut Amnesty International ist die Migrationsreise durch das Transitland Mexiko eine der gefährlichsten der Welt.

Es ist ruhig an den Gleisen in der Nähe von Arriaga, einer Kleinstadt im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die Sonne geht langsam auf, Grillen zirpen unter dem morgenroten Himmel. Doch plötzlich erscheint ein helles Licht am Horizont. Das Rattern des Güterzuges durchbricht die friedliche Stille. Wie ein Monster schiebt sich der Zug träge durch die Landschaft. Erst auf den zweiten Blick werden hunderte Menschen auf den Dächern der Waggons sichtbar.

Der Traum vom Norden. Jeden Tag brechen tausende Menschen ohne Papiere aus den zentralamerikanischen Ländern Honduras, El Salvador, Guatemala und Nicaragua auf, um in den USA Arbeit zu suchen. Gründe für die Migration gibt es viele: Die wirtschaftliche Situation in den zentralamerikanischen Ländern ist katastrophal. Dazu kommen noch die kaputte soziale Infrastruktur, das Erbe der ehemaligen BürgerInnenkriegsländer sowie politische Systeme, von denen die Mehrheit der Menschen ausgeschlossen ist. Die Bedrohung durch Maras, brutale Jugendbanden, ist ein weiterer häufiger Migrationsgrund. Auch die Flucht aus gewalttätigen Eheverhältnissen oder Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung spielen eine Rolle. Für viele MigrantInnen ist die Reise nach Norden der einzige Ausweg aus einem Leben in Armut und Gewalt und die einzige Möglichkeit, durch Geldrücksendungen das Überleben der Familie zu sichern.

Eine der gefährlichsten Reisen der Welt. Doch die Reise durchs Transitland Mexiko ist gefährlich, laut Amnesty International eine der gefährlichsten der Welt. Immer rigidere Visabestimmungen machen es für die Mehrheit der ZentralamerikanerInnen unmöglich, auf legalem Weg in die USA einzureisen. Durch die von der US-Regierung forcierten Migrationskontrollen, die zunehmend von der Grenze ins Inland verlagert werden, wird die Reise durchs Transitland Mexiko immer riskanter. Die Kollaboration der mexikanischen Behörden wird durch die wirtschaftliche Abhängigkeit durch das NAFTA-Freihandelsabkommen sichergestellt [Anm.: NAFTA ist ein Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada, durch das zahlreiche Zölle abgeschafft wurden. Es wurde 1994 begründet.] Die Landstraßen Südmexikos sind mit US-finanzierten Migrationskontrollposten überzogen. Da Reisebusse und Autos nach ZentralamerikanerInnen durchsucht werden, bleibt der Güterzug das einzige Verkehrsmittel. Als blinde Passagiere reisen MigrantInnen auf den Dächern der Züge bis zu 3.000 Kilometer von einer Grenze zur anderen. „La bestia“ – die Bestie – wird der Zug genannt, wegen der Menschenleben, die er frisst. Um die 1000 Menschen sterben jährlich auf der Migrationsroute, unzählige werden verletzt. Für Frauen ist die Reise besonders gefährlich: Jeder zweite weibliche Flüchtling wird Opfer von sexueller Gewalt. Viele Frauen nehmen Vergewaltigungen in Kauf und setzen sich vor der Reise Verhütungsspritzen, damit sie wenigstens nicht schwanger werden. Oft wird der eigene Körper als Zahlungsmittel eingesetzt. Entführungen, Überfälle und Morde durch das mächtige Drogenkartell Los Zetas stehen auf der Tagesordnung. Und die Situation der MigrantInnen hat sich unter der rechten Regierung des amtierenden Präsidenten Felipe Calderón (PAN) noch verschlechtert. „Das ist die Phase, in der es uns am schwersten gemacht wird“, sagt Donar. Der Honduraner hat beim Aufspringen auf den Zug beide Beine verloren. „Es ist die schmutzigste Phase mit den meisten Toten. Früher wurden nicht so viele Leute umgebracht und entführt.“ Die mexikanische Migrationspolizei ist in die kriminellen Machenschaften verstrickt und nutzt den illegalisierten Status der MigrantInnen aus, um von diesen Reisegeld zu erpressen. Und nach mehreren Wochen Reise stellt schließlich die mexikanische Nordgrenze, deren Überwachung durch die restriktive Migrationspolitik der USA immer weiter ausgebaut wird, ein praktisch unüberwindbares Hindernis dar.

Das Ende des Traumes. Doch für viele MigrantInnen endet der amerikanische Traum schon einige tausend Kilometer vorher. „Eigentlich war ich am Weg nach Norden, aber so ist das nun“, sagt Marixa. Die junge Frau aus Honduras lächelt traurig und schaut auf ihre Wunde hinab. Wo vorher noch ein gesundes Bein war, ist jetzt ein verbundener Stumpf. Die alleinerziehende Mutter ist aus Honduras aufgebrochen, um ihrem Sohn die Schulbildung finanzieren zu können. Am Dach des Zuges ist sie eingeschlafen und hinuntergestürzt. Nun sitzt Marixa in ihrem Rollstuhl im Garten der MigrantInnenherberge Buen Pastor im südmexikanischen Tapachula. Ihre Situation ist schlimmer denn je. „Ich wusste schon vorher, dass es schwierig werden wird, die Grenze zu überqueren. Aber durch die Not, die wir haben, versuchen wir es trotzdem“, sagt Marixa. In der Herberge, die von der mutigen Doña Olga Sánchez ins Leben gerufen wurde, warten täglich Menschen auf ihre Prothese. „Ein Junge hier ist erst sechzehn und hat beide Beine verloren. Ich weiß, dass mein Leben nie wieder normal werden wird, aber stell dir vor! Er ist nur mehr ein Stück Körper, nichts weiter!“, erzählt Marixa entsetzt. Die Herberge ist nicht nur Schutzraum für MigrantInnen, sondern hat auch eine wichtige soziale Funktion: Hier können sich Menschen mit dem gleichen Schicksal kennenlernen und vernetzen. Marixas Geschichte ist kein Einzelfall, an der Außengrenze des Wirtschaftsblocks NAFTA bleiben viele MigrantInnen hängen. Einige, weil sie sich auf der Reise verletzen, andere, weil wegen Überfällen das Geld für die Weiterreise fehlt. Die mexikanische Grenzstadt Tapachula ist nicht nur Knotenpunkt für die zahlreichen Abschiebungen, sondern auch ein wichtiger Zwischenstopp für viele MigrantInnen am Weg nach Norden. Neben der Sexarbeit, die tief in der Gesellschaft der Grenzregion verwurzelt ist, werden auch die prekäre Arbeit auf der Müllhalde der Stadt sowie die gesamte Kaffeeernte von MigrantInnen übernommen. „Wenn jemand eine Arbeit hat, um das tägliche Brot zu verdienen, und ein Dach über dem Kopf, würde er sich nicht auf die Reise einlassen“, sagt Marixa. Die MigrantInnen sind sich der Risiken, die sie auf der Suche nach einem besseren Leben eingehen, durchaus bewusst. Doch solange sich die Situation in den zentralamerikanischen Ländern nicht ändert, werden weiterhin Menschen gezwungen sein, die gefährliche Reise nach Norden anzutreten.

Die Autorin studiert Politikwissenschaft, Internationale Entwicklung und Romanistik in Wien. Im Rahmen einer politischen Reise des IAK Berlin bereiste die Autorin im September und Oktober 2011 die südmexikanische Grenzregion und begleitete zentralamerikanische MigrantInnen ein Stück weit auf ihrem Weg nach Norden. (www.iak-net.de/category/reiseblogs/mexiko-blog-2011)
 

AutorInnen: Maria Lisa Pichler