Die Fabrik ohne Bosse

  • 23.04.2015, 11:55

Eine Fabrik, die von ArbeiterInnen verwaltet wird – kann das überhaupt funktionieren? Im griechischen Thessaloniki trat man 2009 den Beweis an.

Eine Fabrik, die von ArbeiterInnen verwaltet wird – kann das überhaupt funktionieren? Im griechischen Thessaloniki trat man 2009 den Beweis an.

Mai letzten Jahres am Stadtrand von Thessaloniki: Wir stehen vor dem Eisentor der Fabrik VIOME, klopfen und rufen, um uns bemerkbar zu machen. Wir wollen diesen selbstverwalteten Betrieb, der es bereits zu lokaler Berühmtheit gebracht hat, mit eigenen Augen sehen. Nach einigen Minuten öffnet uns der 47-jährige Alexandros Siderides und bittet uns hinein. BesucherInnen sind hier erwünscht, man sucht ganz bewusst Aufmerksamkeit und Unterstützung. Alexandros führt uns durch die Fabrik, beantwortet geduldig unsere Fragen.

UNGEORDNETER RÜCKZUG. Die Fabrik produzierte seit 1981 Chemikalien für den Bau und war 18 Jahre lang ein profitables Unternehmen. Als jedoch 2009 die Mutterfirma Filgeram-Johnson Pleite ging, sollte auch VIOME geschlossen werden. Die Fabriksleitung entschied sich für den ungeordneten Rückzug: Sie tauchte unter, ließ die ausstehenden Löhne unbezahlt, aber auch die Maschinen an ihrem Platz. Nach dem ersten Schockmoment trafen 24 der 70 ArbeiterInnen die folgenreiche Entscheidung, auf eigene Faust weiter zu produzieren. Die Alternativen hätten bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation Griechenlands wohl Langzeitarbeitslosigkeit und Verarmung geheißen. Stattdessen begann man die komplette Produktion an die eigenen Möglichkeiten anzupassen: „Statt Baumaterialien stellen wir nun pflanzliche Reinigungsprodukte her. Das Ausgangsmaterial ist günstig: Wir verwenden Olivenöl, das für den Verzehr nicht gut genug ist. Für die Produktion von Seife ist es jedoch perfekt geeignet. Auch die vorhandenen Maschinen waren für diese Art der Produktion brauchbar.“   

Seifenproduktion <br> Foto: Dieter Diskovic

SOLIDARITÄT. Rechtlich bewegt man sich dabei auf heiklem Terrain. Dass die Fabrik nicht sofort geräumt wurde, ist wohl auch der großen Solidaritätsbewegung zu verdanken: „Um ehrlich zu sein, hatten wir anfangs nicht viel Ahnung von Politik, Sozialismus oder Anarchismus. Darum waren wir von der riesigen Solidarität überrascht. Die Menschen kamen und brachten alle möglichen Dinge, um die Fabrik zu unterstützen.“ Konzerte wurden für VIOME  organisiert, eine Protestkarawane zog durch Griechenland, um sich für die Legalisierung der Fabrik einzusetzen. „Die Solidarität hat VIOME am Leben gehalten. Sie kam aus Griechenland und ganz Europa und half uns auf vielfältige Weise: wirtschaftlich, materiell und psychologisch.” Die hergestellten Produkte konnten anfangs nur auf informellen Wegen, vor allem über besetzte Häuser und soziale Zentren, verkauft werden. Finanziell war man dadurch in einer permanent prekären Lage. Ohne die Unterstützung ihrer Familien hätten viele der ArbeiterInnen wohl nicht durchhalten können. Alexandros: „Es war nicht leicht, meine Familie von meinem Vorhaben zu überzeugen. Sie hielten es nicht für möglich, dass eine Fabrik ohne Bosse funktionieren kann – schließlich ist es jeder gewohnt, immer mit einem Boss über sich zu arbeiten. Ich habe ihnen dann eine Dokumentation über FaSinPat gezeigt. Das ist eine argentinische Fabrik, die seit 2001 selbstverwaltet funktioniert. Damit habe ich sie schließlich überzeugt“.

Bereut hat Alexandros seine Entscheidung nie – die Selbstbestimmung ist für ihn jede Anstrengung wert: „Früher hatten wir eine Art Zuhälter, der über uns bestimmt hat. Man wurde schlecht bezahlt und hat sich wie ein Sklave gefühlt. Das hat sich komplett geändert. Wir treffen unsere Entscheidungen nun gemeinsam in Versammlungen. Jeder und jede bekommt bei VIOME das gleiche Gehalt, egal ob du putzt, als Wache oder an den Maschinen arbeitest. Außerdem rotieren die Positionen: Heute bin ich Security, morgen Fabriksarbeiter.“

Alexandros Siderides Foto: Dieter Diskovic

LEGALIZE IT! Um VIOME finanziell über Wasser zu halten, war es essentiell, die Produkte zu legalisieren, denn der Verkauf über informelle Wege konnte die Kosten kaum decken. Aus diesem Grund wurde VIOME als Sozialkooperative angemeldet. Damit hat der Betrieb erstmals einen legalen Status und darf seine Produkte offiziell verkaufen. Trotzdem hält man sich von Großvertrieben fern und sucht die Nähe zu kleinen und solidarischen KooperationspartnerInnen: „Wir brauchen unsere eigenen Produktions- und Distributionsmethoden. Das Big Business interessiert uns nicht. Stattdessen wollen wir mit Kleinstunternehmen und alternativen Netzwerken zusammenarbeiten.“ Bewusst versucht man auch, die Preise für die Waren niedrig zu halten: „Unsere Produkte sind sehr günstig. Aber durch die Krise können sich viele Menschen nicht einmal eine Seife um einen Euro leisten. Wir sind deshalb auch von den Exporten abhängig.” Erst seit kurzem – seit der Legalisierung – exportiert VIOME seine rein pflanzlichen und basisdemokratisch produzierten Produkte auch ins Ausland.

Einer sicheren Zukunft schaut VIOME damit allerdings noch nicht entgegen. Die ursprünglichen EigentümerInnen versuchen nun, die Rückgabe der Fabrik und der Maschinen gerichtlich durchzusetzen. VIOME argumentiert, dass die Fabrik immer Gewinn gemacht hat und der Bankrott im Jahre 2009 auf Fehler der EigentümerInnen zurückging. Ein derartiger Prozess ist ein erstmaliger Fall in Griechenland, der Ausgang offen. Ob die neue linksgerichtete Regierung Rückenwind für die Fabrik ohne Bosse bringt, ist noch unklar. Die Solidaritätskarawane der Anfangszeit hat sich bereits wieder formiert. Die ArbeiterInnen von VIOME wollen unabhängig vom Gerichtsurteil in der Fabrik bleiben, denn „die Produktion hält nicht nur die Fabrik am Laufen, sondern sie ermöglicht es uns und unseren Familien, physisch und psychisch durchzuhalten. Sie hilft uns, lebendig zu bleiben, unsere Würde zu behalten und negative Auswirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit wie Angst, das Gefühl der Nutzlosigkeit und Depression zu vermeiden.“

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

AutorInnen: Dieter Diskovic