„Was passiert, wenn wir vergessen uns zu erinnern?“
"Was passiert, wenn wir vergessen uns zu erinnern?". Margot Landl berichtet über das sechsmonatige Gedenkprojekt "The Vienna Project“, das sich mit den Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetzt.
„The Vienna Project“, ein sechsmonatiges Gedenkprojekt für die Opfer des Nationalsozialismus, soll 75 Jahre nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland die Geschehnisse von damals zur Sprache bringen. Die Botschaft des interaktiven Mahnmals lautet: Gegen das Vergessen und für das Lernen aus der Geschichte.
Es ist Freitag der 24. Oktober 2013, elf Uhr Vormittag, vor der Universität Wien. Die letzten Studierenden verlassen das Gebäude, gedanklich bereits im Wochenende. Nur wenige bemerken die zwei jungen Frauen, die auf dem Asphalt am Ende der breiten, steinernen Treppe Papierschablonen am Boden befestigen. Erst beim Zischen der Spraydose werden ein paar aufmerksam, manche kommen näher, um die so entstandenen weißen Schriftzüge auf dem Asphalt entziffern zu können: „Was, wenn wir vergessen, uns zu erinnern? What happens when we forget to remember? Kaj se zgodi, ko se pozabimo spominjati?”
Orte der Erinnerung
In zehn verschiedenen Sprachen – Deutsch, Englisch, Jiddisch, Hebräisch, Rumänisch, Polnisch, Türkisch, Slowenisch, Russisch und Bosnisch- Kroatisch- Serbisch – wird dieser Leitsatz auf Gehsteige gesprayt. Als „Sidewalk Installation“ werden die Schriftzüge in den nächsten sechs Monaten an 38 Orten der Stadt auftauchen. 38 steht für 1938, das Jahr des „Anschlusses“ Österreichs an Hitlerdeutschland vor 75 Jahren. 38 Orte der Erinnerung werden im Zuge des „Vienna Project“ auf verschiedenste Weise inszeniert. Orte des Verbrechens, der Beschimpfung und Erniedrigung, aber auch des Widerstands, der Unterstützung und des Zusammenhalts.
Die Smartphone-App des „Vienna Project“ bietet neben vielen Informationen eine Karte, auf der alle Plätze eingezeichnet sind und zu denen man jeweils eine kurze Beschreibung aufrufen kann. In dieser wird erläutert, aus welchem Grund genau dieser Ort ein „Ort der Erinnerung“ ist. Einige davon sind bekannt, viele jedoch nicht. Auch die bekannteren Orte werden aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Die Liste reicht von Orten der Diskriminierung und des Ausschlusses von Juden und Jüdinnen, wie der Universität Wien oder der Staatsoper, über Deportationsbahnhöfe wie etwa dem Aspangbahnhof zu eher wenig bekannten Stätten wie dem Klublokal des jüdischen Sportvereins Hakoah oder dem Heim für von den Nazis als sogenannte „Mischehepaare“ Bezeichnete . Den Schwerpunkt des Projekts stellen die Verfolgung und Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens dar. Aber auch das Schicksal von Roma und Sinti, psychisch Kranken, Körperbehinderten, Homosexuellen, Opfern der NS-Euthanasie, politisch Verfolgten, DissidentInnen, slowenischen PartisanInnen und Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas werden thematisiert.
Ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Das Programm „Vienna Project“ ist, da es als ein Projekt des sozialen Handelns konzipiert ist, außerordentlich umfangreich. Die Liste der Mitarbeitenden ist lang, sie umfasst Studierende, HistorikerInnen, ProfessorInnen, KünstlerInnen und PädagogInnen. Kunst, Pädagogik, Technologie und Wissenschaft sollen, immer auf Basis des Dialogs miteinander, verbunden werden. Das immerwährende Aufwerfen von Fragen zu den Verbrechen des NS-Regimes soll mit einem Gegenwartsbezug einhergehen, erklärte die Initiatorin des Projekts, die in den USA aufgewachsene Künstlerin und Aktivistin Dr. Karin Frostig, in einem ORF-Interview. Ihre Idee für das „Vienna Project“ entstand aufgrund ihrer persönlichen Lebensgeschichte: Als sie vor etwa zehn Jahren Briefe ihrer in Österreich unter Hitler lebenden Großeltern an ihren 1938 im Zuge einer Verfolgungswelle österreichischer Intellektueller in die USA vertriebenen Vater erbte und diese übersetzte, gaben ihr diese Aufschluss über ihre im Dritten Reich von den Nazis ermordete Großfamilie, von der die US-Amerikanerin bis dahin nichts wusste. Eine Reise nach Wien und die anschließende Annahme der österreichischen Staatsbürgerschaft im Jahr 2007 waren die Basis für die neue Beziehung zu Österreich, dem Land ihrer Vorfahren, und die Umsetzung des Gedenkprojekts.
Interaktion als Leitsatz
Am Abend des 23. Oktober 2013 wurde das „Vienna Project“ nach dreijähriger Planung feierlich im Odeon Theater in Wien-Leopoldstadt eröffnet. Ursprünglich sollte das seit drei Jahren geplante Projekt lediglich aus Graffitis bestehen. Für diese wurde jedoch seitens der Behörden keine Genehmigung erteilt, weshalb nun Gehsteiginstallationen, Projektionen, und künstlerische Performances den Kern des Projekts bilden. Unter den Ehrengästen der Eröffnung befanden sich unter anderem Bundespräsident Heinz Fischer und der US-amerikanische Schriftsteller mit österreich-jüdischer Herkunft Frederic Morton. Auf die Vorstellung des Projekts folgten eine Lesung des Schriftstellers Robert Schindl und eine Performance der Schauspielerin und Regisseurin Sandra Selimovic aus ihrem neuen Stück „Mindj Panther“, in welchem sie als Roma-Boxerin gegen Antiziganismus ankämpft. Interviews mit Sandra Selimovic und anderen an dem Projekt beteiligten KünstlerInnen sind auf dem Blog des Projekts nachzulesen. Um 20:30 startete schließlich der „Parcours des Erinnerns“ mit insgesamt sieben Lichtinstallationen entlang des Donaukanals. Auf Brücken, Mauern und Häuserwände wurden Botschaften projiziert, welche die BetrachterInnen zum Nachdenken über die Vergangenheit und Gegenwart animieren sollten. Bei der Installation „Right to be present“ von Martina Menegnon und Stefano d’Alessio werden beispielsweise Auszüge aus der Menschenrechtsdeklaration auf die Unterseite der Salztorbrücke projiziert, wodurch ein Thema inszeniert wird, das universelle Gültigkeit besitzt.
Am darauf folgenden Tag starteten die „Sidewalk Installations“ mit einer Sprayaktion vor dem Parlament. Spezielle Events sind für die Pogrom-Nächte vom 6. bis zum 9. November geplant. Am Abend des 7. November findet die erste „Stille Mahnwache“ am Friedhof Seegasse, dem Aspangbahnhof und dem ehemaligen Nordbahnhof statt. Diese stellt ein gemeinsames Gedenken an die Opfer der Deportation und Vernichtung dar. Die „Stille Mahnwache“ soll bis in den April 2014 an jedem ersten Donnerstag des Monats abgehalten werden. Unter der Prämisse der Interaktivität lädt „The Vienna Project“ jeden zur Teilnahme an sämtlichen Veranstaltungen ein. Das Programm ist auf der Website http://theviennaproject.org/ verfügbar, die App und die Facebook-Seite „The Vienna Project“ informieren zusätzlich über aktuelle Veranstaltungen.
Am 25. November beginnt mit dem „Violence Against Women Remembrance Day“ eine Serie von „Performance Art“ – Darbietungen, die einen besonderen Gegenwartsbezug durch das Thematisieren aktueller Debatten herstellen sollen. Dabei sollen verschiedene Fragen aufgeworfen werden: Wo findet heute Diskriminierung statt? Wer ist davon betroffen? Und was kann man dagegen tun? Die Veranstaltungen finden dabei am „Internationalen Tag gegen die Gewalt an Frauen“ (25. November), am „Tag der Menschenrechte“ (10. Dezember), am „Internationalen Holocaust-Gedenktag“ (27. Januar), dem „Internationalen Tag der Roma“ (8. April) und in den „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ im März statt.
Die Aktionen werden durch ein pädagogisches Programm ergänzt, das neben einem LehrerInnenseminar Führungen, Aktions- und Austauschanregungen für SchülerInnen und ein abschließendes internationales wissenschaftliches Symposion beinhaltet. Das Verständnis der Öffentlichkeit für den Nationalsozialismus soll auf diese Weise vertieft werden. Auch persönlichen Beziehungen zu dieser Zeit soll Raum gegeben werden.
Das Projekt wird mit der Projektion von 90.000 Namen der Opfer des NS-Regimes auf die Wiener Flaktürme vom 6. bis zum 8. Mai 2014 enden. Darüber hinaus ist auch ein zweites Abschlussevent in Planung. Doch neben der Erinnerung soll auch ein Teil des Projekts bestehen bleiben: Auf der Website des Projekts wird ein digitales Denkmal im Stil der Flakturm-Projektionen installiert. In diesem werden über 80.000 Namen und Symbole für bestimmte Gruppen in zufälliger Anordnung beim Öffnen der Website erscheinen. Anhand einer Vergrößerungsmöglichkeit können hundert Namen auf einmal auf dem Bildschirm betrachtet werden, in dieser Ansicht sind auch Einzelpersonen festzustellen. Bei der Verkleinerung jedoch füllen immer mehr Namen in immer kleinerer Schrift den Bildschirm und symbolisieren so den Verlust von Individualität in einer Zeit der haltlosen Massenvernichtung.
Blog zum „Vienna Project“: http://viennaproject.tumblr.com/
Die Autorin Margot Landl studiert Lehramt Deutsch und Geschichte sowie Politikwissenschaften an der Universität Wien.
progress-online Schwerpunkt: Im Gedenken an das Novemberpogrom 1938
Einmal Palästina und wieder zurück.